Vier Kinder & ein Feldbett auf der Berlinale — Ohne Familie bist du nichts - Im Spanien der sozialen Kälte: 'Ärtico/Arctic'

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Ohne Familie bist du nichts - Im Spanien der sozialen Kälte: 'Ärtico/Arctic'

‘Ärtico’, der Film des Spaniers Gabri Velázquez, mit diesem seltsam anmutenden Titel, war bei mir als Dokumentarfilm abgespeichert gewesen: Tatsächlich beginnt der Film im Gewand einer relativ harmlosen Sozialdoku, steigert sich dann aber schnell und fließend in eine verstörend-dramatische Realfiktion über benachteiligte Jugendliche im Spanien der Krise - und über die unhintergehbare Wichtigkeit der Familie.

Das jedoch, ohne seinen dokumentarischen ‘Stil’ einzubüßen: unbeteiligt wirkende, großformatige Kameraführung, kaum Close-ups, quasi keine Dialoge; die Charaktere werden in langen Portrait-Aufnahmen vorgestellt, Blick in die Kamera bzw ins Auge des Zuschauers: Die vierte Wand wird durchbrochen.
Diese Hybridform wirkt, wie gesagt, zunächst irritierend, besonders im Moment, wenn man zweifelsfrei feststellt: ‘Dies kann keine reine Doku sein - das ist inszeniert - und trotzdem tut er irgendwie so.’ Man fragt sich ständig, wieviel vom Filminhalt nun realen und wieviel fiktionalen Ursprungs sein mag. Irgendwann allerdings drängt sich diese Frage in den Hintergrund und der Film entfaltet, gerade durch seine Ambivalenz zwischen Fiktion und Realität eine umso intensivere Wirkung. Im Wesentlichen zeigt er in lakonischem Ton, wie sich vier spanische Jugendliche, am unteren Rand der Gesellschaft, durchs Leben schlagen, sich die Zeit mit Taubenschießen oder Kleinkriminalität vertreiben und mit ungewollter Schwangerschaft zu kämpfen haben (die Reaktionen hierauf sind insbesondere angesicht der gegenwärtigen Anti-Abtreibungspläne der spanischen Regierung hochaktuell).

Alle außer einem von ihnen sind familienlos, stehen alleine im Leben. Und dieser eine, der eine - wenn auch traditionale, dysfunktionale - Familie um sich hat und obwohl er sich um die eigene Freundin und Kind nicht kümmert, ist der einzige, der sich dabei etwas besser schlägt - alle anderen scheitern existenziell. Ohne Familie bist du nichts und eine dysfunktionale ist immer noch besser als gar keine Familie, so könnte man die (etwas konservative) Haupt-Botschaft des Films vielleicht zusammenfassen (wie es der Regisseur selbst in der Fragerunde nach der Vorstellung getan hat). Und besonders gilt dies in Krisenzeiten: obwohl die wirtschaftliche Lage, unter der Spanien zu leiden hat, im Film selbst beinahe unerwähnt bleibt (bis auf einen etwas bemühten Nebensatz), gesellt sie sich unweigerlich im Kopf des Zuschauers als Kontext hinzu.

Die ästhetische Gestaltung des Films kontrastiert dabei vorzüglich mit dem inneren Seelenleben der Protagonisten: die starren, ruhigen Einstellungen (obwohl sie nach Aussage des Regisseurs nur dem geringen Budget geschuldet seien) mit der ruhelosen Getriebenheit und unterdrückten Agression der Figuren; die meist intensiven Farben (ohne einige graue Szenen leugnen zu wollen) und das klare Licht mit der Misere ihrer verworrenen Biographie. Sparsam untermalt von bloßen Klatschrhythmen und teils ein wenig Flamenco-Gesang haben diese Bilder in ihren besten Momenten eine geradezu hypnothische Wirkung. Die “Kälte und Distanz” (Garcia im Q&A), die der Titel zu meinen scheint, findet sich so weniger in der formalen Gestaltung des Films, als in seinen Charakteren selbst, aber auch in der meist geradezu unbeteiligten Art, in der die Kamera sie einfängt - bzw gerade nicht einfängt: Häufig wirkt es, als hätte jemand einfach eine Kamera in die landschaft gestellt und die Protagonisten bewegten sich bloß zufällig in ihrem Blickfeld.

Fazit: Trotz der ein oder anderen etwas bemühten oder aufgesetzten Szene, bleibt der Film ein berührender, beklemmender Einblick in die Lebenswelt sozial benachteiligter Jugendliche im Spanien der Gegenwart.

(Constantin)

PS:

Die Antwort auf die Frage nach dem Mischungsverhältnis von Fiktion und Realität, lieferte der Regisseur im Q&A nach der Vorführung: Seine Darsteller, ‘schwierige’ Jugendliche, ohne Familie, hat er aus Sozialwohnheimen rekrutiert und sie dann ein von ihm vorgegebenes Skript spielen lassen - ohne ihnen allerdings zuzutrauen, allzuviel zu reden, aus Angst sie könnten es nicht anständig rüberbringen. Daher die Wortkargheit des FIlms, die ganz unabhängig von seinen Motiven jedenfalls eine tolle Wirkung hat und den Charakter des Films bestimmt. Schade nur, dass niemand sich bemüßigt gefühlt hat, die Protagonisten des Films zum Festival einzuladen, wie es bei jedem anderen Film normal gewesen wäre - zumal sie es durch ihre spielerische Leistung absolut verdient gehabt hätten. Die soziale Arroganz, die daraus spricht - wie paradoxerweise aus manchem Kommentar des Regisseurs selbst - überrascht, empört und steht in absurdem Kontrast zur Intention des Films. Was hat man denn befürchtet, dass sie den Berlinale-Palast anzünden? Angessichts seiner architektonischen Monstrosität wäre selbst das kaum zu verurteilen gewesen…