Vier Kinder & ein Feldbett auf der Berlinale — Stille Gewalt und moralische Verrohung: ‘Stratos’ (To Mikro Psari)

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Stille Gewalt und moralische Verrohung: ‘Stratos’ (To Mikro Psari)

Stratos’ beginnt als subjektives Drama eines Kleinkriminellen, doch offenbart sich schnell als Parabel auf den Zustand eines ganzen Landes im Gewand einer Milieustudie. Griechenland in der Krise, so die düstere Botschaft von Yannis Economidis, ist ein Land, dem die Menschlichkeit abhanden kommt.

Auf der formalen Ebene zeichnet sich der Film (wieder mal, s. ‘Arrête’ und ‘Aimer’) durch eine extreme Langsamkeit und Ruhe aus: Lange Einstellungen, musikalischer Minimalismus, Überblendungen statt harter Schnitte zwischen den Szenen. Diese Unaufgeregtheit bleibt der Filmsprache selbst in den blutigen Momenten erhalten, beispielsweise, wenn der Protagonist Stratos (Vangelis Mourikis) mal wieder einen seiner zahlreichen Auftragsmorde begeht, mit denen er versucht, genug Geld für die Befreiung seines alten ‘Paten’ zusammenzubekommen. Die Beiläufigkeit und Selbstverständlichkeit dieser Szenen, weder beschleunigt, noch musikalisch dramatisiert, gespiegelt in der Ausdruckslosigkeit des Mörders, inszeniert eine erdrückende Banalität der Gewalt. Beklemmend ist der Film, trotz seiner weiten Bilder. Unterstützt durch das apathische, stille, beinahe regungslose Spiel des Hauptdarstellers - dessen zerfurchtes Gesicht, in minutenlangen Einstellungen, die ebenso reglosen griechischen Berge zu spiegeln scheint - , entsteht so der Eindruck absoluter Agonie.

Im Kontext der gegenwärtigen katastrophalen Lage Griechenlands im Rahmen der Wirtschaftskrise wurde immer wieder betont, eines der Hauptprobleme des Landes bestehe in Mangel eines landesweiten Gemeinschaftsgefühls, der Bevorzugung familiärer vor nationaler Solidarität. ‘Stratos’ zeigt uns - wenn auch anhand einer Mafia-“Familie” - , wie im Zuge der Krise nun die familiäre Solidarität ebenso zerbricht: Nachdem er seine gesamten (durch Auftragsmorde erworbenen) Ersparnisse dem Bruder seines alten Chefs zu dessen Befreiung überlassen hat, setzt sich jener mit allem ab und lässt seinen eigenen Bruder umbringen. Stratos steht ohne Geld und ohne “Familie” da.

Alles was überhaupt noch zählt ist Geld - bzw. seine Abwesenheit, in Form von Schulden: So oder so treibt es die handelnden Personen in eine völlige Verrohung. Auf die Spitze getrieben wird das nicht etwa in expliziter Gewalt, sondern am Beispiel der Nachbarsfreunde Stratos’: Bruder und Schwester haben hohe Schulden bei einem der lokalen Bosse. Nachdem sich zunächst bereits die Schwester mehr oder weniger freiwillig bereit erklärt hat, sich zu prostituieren, gehen die beiden schließlich auch einvernehmlich auf das Angebot ihres Gläubigers ein, ihnen die Tochter der Schwester für einen Nachmittag zu überlassen… In dieser Situation ist es paradoxerweise ausgerechnet Stratos, in echter Sympathie für die Kleine, der innerlich aufbegehrt…

Moralischer Ausverkauf durch Schulden - genau das geschieht momentan in ganz Greichenland, ob durch durch die Privatisierung des nationalen Kulturerbes, die Streichung von Umweltschutzbestimmungen oder die Rücknahme sämtlicher sozialen Sicherungen. Hellas, ein Land ohne Hoffnung - man man lesen wie man will, dass der letzte Hoffnungsschimmer ausgerechnet von einem Auftragsmörder ausgeht.

Obwohl gerade in der Langsamkeit des Films seine Stärke liegt, nimmt er sich leider letztlich doch zu viel Zeit - einige harte Schnitte und ca. eine halbe Stunde weniger hätten ihm gutgetan - was auf Kosten seiner Prägnanz geht und einige Zuschauer verprellte, die nach 2 Stunden nicht mehr konnten und das Kino verfrüht verlassen haben. Ich allerdings bin geblieben und sage euch: es lohnt sich!

Fazit: Milieustudie und politisches Statement in einem - trotz einiger Längen, absolut sehenswert!

(Constantin)